AG Geschlechterforschung in Mainz

Tagungsbericht

Die Vielfalt der Geschlechter: komplexe Identitäten statt binäre Konzepte
8. Sitzung der AG Geschlechterforschung am 04.07.2017 während des 9. Deutschen Archäologiekongresses in Mainz

Uta Halle, Universität Bremen

Die ursprünglich überwiegend auf Forschungsfragen zu Frauen in der Vorgeschichte ausgerichteten Tagungsthemen der AG Geschlechterforschung, z.B. „Bilder – Räume – Rollenverteilungen“ (2011 gemeinsam mit der AG Eisenzeitforschung in Bremen) und ,,Geschlechter im Museum“ (2013 in Lübeck), um hier nur zwei der bisherigen Themen zu nennen, befasste sich bei ihrer diesjährigen Sitzung mit dem spannenden Aspekt der Vielfalt der Geschlechter. Durch die bisherigen Forschungen ist erkennbar geworden, dass der soziale Faktor häufig mit weiteren biologischen und kulturellen Aspekten, wie Alter und sozialer Status, verknüpft sein kann. Diese bedeutenden Verbindungen sind bislang noch nicht hinreichend erforscht. Dem sollte durch die Beiträge in der Sitzung der AG in Mainz abgeholfen werden. Das Thema bot den Rahmen, sich von den binären Geschlechtern Frau bzw. Mann zu lösen und zu diskutieren, ob und wie in der Archäologie die gegenwärtig in den Kulturwissenschaften viel untersuchte Vielfalt der Geschlechter aufgenommen werden kann.
Angekündigt wurde von Jana Fries am Anfang, dass die AG sich in der Vorbereitung eine andere Diskussionsform ausgesucht hatte. Hierfür wurden Karteikarten an freiwillige Kandidat*innen verteilt, die sich in den Vorträgen Fragen für die Diskussion notieren sollten, die dann nach einem Sektionsblock in Kleingruppen diskutiert werden sollten. Ein großes Lob für diese andere Diskussionsform, denn damit kamen tatsächlich sehr lebhafte Runden zustande.
In ihrem Einführungsvortrag zeigten Ulrike Rambuscheck und Jana Fries die thematische Problematik auf. Viel zu oft erfolgt bei einem beigegebenen Schwert die Zuweisung „Männergrab“ und bei einer aufgefundenen Perlenkette eine Einordnung als „Frauengrab“. Gab es also keine Transgendermenschen, die sich nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht identifizieren konnten und deshalb die Grabbeigaben des anderen Geschlechts bekommen hatten? Ulrike Rambuscheck versuchte in ihrem Teil zur Eingrenzung des Themas, zunächst genaue Definitionen zu finden. Dabei musste sie allerdings feststellen, dass es diese Definitionen nicht gibt und sie, wenn vorhanden, unendlich schwammig sind. Sie kam aber zu der grundlegenden Aussage, dass alle Wissenschaftler*innen Identität anhand materieller Quellen aus Grabbeigaben, Bestattungsform und menschlicher Überreste herausarbeiten. Sie warnte vor einer einfachen Übernahme eigener Werte für die Vergangenheit und forderte dazu auf, die historische Situation immer mit zu bedenken. Jana Fries erinnerte daran, dass in der Interpretation archäologischer Quellen erst seit 25 Jahren auch Frauen mitgedacht werden, weil zuvor alle Kunst, Handwerk, Jagd etc. als nur von Männern gemacht dargestellt wurden. Hier hat sich also etwas deutlich geändert und somit der prähistorischen Realität schon besser entspricht. Aber die Vielfalt der Geschlechter spielt immer noch keine Rolle. Sie verwies auf die „Archaeology and Gender Session“ 2014 mit dem Thema „Binary bind: deconstructing sex and gender dichotomies in archaeological practice“ (Istanbul 2014).
Daniela Nordholz (Bremen) begann in ihrem Vortrag „Jenseits binärer Konzepte – was wir über Geschlechter gelernt haben und wie wir dem entkommen können (falls wir das denn wollen)“ mit einem Blick in die Embryonalentwicklung, da Föten am Beginn der Schwangerschaft weder männliche noch weibliche Kennzeichen zeigen und sich die genetisch bedingten Geschlechtsmerkmale erst im Verlauf der weiteren Schwangerschaft herausbilden. Sie machte zudem auf die geschlechts- und herrschaftsspezifische Problematik der ethnologischen Vergleiche aufmerksam. Vielfach sind die frühen ethnologischen Beschreibungen von Missionaren mit einer zielgerichteten Absicht an die aussendeten Missionsgesellschaften verfasst wurden. Auch sind in diesen Beschreibungen die Aktivitäten und Rollen der Männer oftmals in den Mittelpunkt gerückt worden und die der Frauen missachtet und unbeschrieben geblieben. Dies bietet also erkennbare Fallstricke für die Archäologie. Nordholz verwies auf die spezifischen Wechsel zwischen den Geschlechterrollen der indigenen Völker Nordamerikas, die deutlich von denen der europäischen Kulturen abweichen. Früher mit der negativ konnotierten Bezeichnung „Berdache“ charakterisiert, hat sich hierfür seit den 1990er Jahren der Begriff „Two Spirits“ eingebürgert. Hier bleibt die Frage, wie wir mit solchen Beschreibungen vielleicht Phänomene auf Gräberfeldern interpretieren könnten. Sie verdeutlichte in ihrem Vortrag aber auch, dass die Ausführungen zu anderen als männlich und weiblich zugeordneten Geschlechtern noch sehr fremd für die archäologischen Wissenschaften sind und dass wir gerne an diesem vertrauten Denkschema haften bleiben.
Ines Beilke-Voigts (Berlin) Vortrag „Geschlechtsspezifische Beigaben vs. anthropologischer Bestimmungen. Zur personalen Identität im Bestattungskontext“ konnte daran unmittelbar anschließen, denn sie stellte die von Daniela Nordholz mündlich präsentierten Gruppen der „Two Spirits“ auch noch durch Abbildungen vor. Sie verwies auf die grundlegende These, dass sich das biologische Geschlecht in den Grabbeigaben und der -ausstattung erkennbar zeigen soll, und ging dann auf die Problematik ein, wie ein Befund mit geschlechtsabweichender anthropologischer Geschlechtsbestimmung gedeutet werden kann. Wenn wir nicht in diesen Fällen an eine falsche Geschlechtsbestimmung durch die Anthropologie glauben möchten, dann müssen wir die Grabbeigaben, die als persönlicher Besitz, Abschieds- oder Totengeschenk oder als Ausstattung für das Jenseits angesprochen werden können, anders interpretieren und eine Geschlechterrollen-Varianz in Betracht ziehen.
Danach stellten die beiden Wissenschaftler Matthias Jung und Andy Reymann (Frankfurt am Main) unter der Frage „Funktion, Rolle oder Status? Die Unschärfen archäologischer Identitätszuweisungen am Beispiel von ‚Krieger‘ und ,Kriegerinnen‘“ vor. Die überwiegend archäologische Ansprache von in waffenführenden Gräbern Bestatteten als „Krieger“ lädt diese Begrifflichkeit zugleich bezüglich der jeweiligen Militär- und Sozialorganisation stark auf. Der „Krieger“ steht in der Regel für „Männerbünde“ oder wird als „Gründerfigur“ heldisch überhöht. Am Beispiel des „Amesbury Archer“, der manchmal in den Medien auch als „King of Stonehenge“ bezeichnet wird, verdeutlichten sie diese Unschärfe und kontrastierten sie mit der „Schamanin von Bad Dürrenberg“, die zunächst als „Mann“ mittlerweile aber auch als „Grenzgängerin“ bezeichnet wird. Vielfach werden „Krieger“ auch noch zu „Helden“ überhöht.
Nach diesem ersten Vortragsblock erfolgte die 15-minütige Diskussion in Kleingruppen über die auf den Karteikarten festgehaltenen Fragen zu den Themen. Es entspann sich in allen Kleingruppen eine lebhafte Diskussion.
Nach der Mittagspause präsentierte Nicole Taylor (Kiel) unter dem Titel „(In)Visible Gender: Urnfield cremations and gender relations“ Ergebnisse ihrer Dissertation. Exemplarisch hat sie die urnenfelderzeitlichen Bestattungen von Vollmarshausen, Ldkr. Kassel, Hessen, vorgestellt. Für ihre Dissertation hat sie die anthropologischen Ergebnisse und die Grabkeramik analysiert und dabei geschlechtsspezifische Auffälligkeiten und Muster für die Identität und den sozialen Status erarbeitet.
Spannende Einblicke gab die klassische Archäologin Susanne Moraw (Würzburg) anhand eines Gemäldes in einer Grabkammer in Neapel, San Gennaro. Betitelt hatte sie ihren Beitrag „Nonnosa und ihre Identitäten“, ein Titel, der die anwesenden Prähistorikerinnen zuvor schon neugierig gemacht hatte, weil niemand den Namen „Nonnosa“ einordnen konnte. Bei „Nonnosa“ handelt es sich um ein Kleinkind, eine verstorbene Christin, die mit ihren Eltern auf dem Gemälde dargestellt ist. Anhand von Kleidung, Stellung innerhalb der Gemäldekomposition und anderer Details stellte Moraw einen Bezug zum schwierigen Thema Intersektionalität her.
Den Abschluss bildete der Vortrag von Cathrin Hähn (Bremen), die über „Dis/ability und Konzepte von Identität“ sprach. Anhand verschiedener Beispiele und den tabellarisch dargestellten Verschränkungen verdeutlichte sie, dass neben den Kategorien Gender und Ethnizität auch Dis/ability bei der Konstruktion vorhistorischer Identitäten mitgedacht werden muss. Im Rahmen ihrer Dissertation forscht sie, wie die Archäologie diese intersektionalen Verschränkungen im Hinblick auf körperliche Andersheit ergründen kann und wie sich diese z.B. im Grabbrauch des Frühmittelalters erkennen lassen. Sie warnte davor, heutige Kategorien auf vormoderne Zeiten zu übertragen, und betonte, dass Menschen, die körperlich ‚anders‘ waren, keine gleiche und gemeinsame Identität besessen hatten, sondern jeweils eine spezifische soziale Realität lebten.
Erkennbar wurde im Workshop, dass Geschlecht nicht getrennt von anderen Identitätskategorien und Machtverhältnissen existiert, sodass immer Intersektionalität mitgedacht werden sollte. Dies ist kulturell und historisch spezifisch; das bedeutet, dass Gender nicht zwangsläufig zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort gleich organisiert ist und/oder existiert, die Archäologie also immer sehr genau und spezifisch interpretieren muss. Im Verlauf aller Vorträge wurde aber auch durchaus erkennbar, dass wir uns ungeachtet all unserer Einwendungen an der vorherrschenden Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität noch immer sehr schwertun, mit Worten diese vertrauten binären Geschlechter zu verlassen, und so stellt eine Forschung zur Intersektionalität mit ihren Verschränkungen zu anderen Konstrukten, wie Klasse und Gender, für die Zukunft noch eine große Herausforderung dar. Deshalb hätte ich mir für die Sitzung etwas mehr Teilnehmer*innen gewünscht!

 

Die Einführung ins Thema und ein Vortrag sind online in den Archäologischen Informationen veröffentlicht. Sie erscheinen demnächst auch im Druck.

Ulrike Rambuscheck, Die Vielfalt der Geschlechter: komplexe Identitäten statt binäre Konzepte. Einleitung ins Thema. Archäologische Informationen 41, 2018, 151-154.
DOI: https://doi.org/10.11588/ai.2018.0.56940
URN (PDF): http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-ai-569405

Susanne Moraw, Nonnosa und ihre Identitäten: ein spätantikes Fallbeispiel aus der Katakombe San Gennaro in Neapel. Archäologische Informationen 41, 2018, 155-170.
DOI: https://doi.org/10.11588/ai.2018.0.56941
URN (PDF): http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-ai-569410

 

Programm

9:15 Jana Esther Fries und Ulrike Rambuscheck: Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema
10.00 Kaffeepause
10:30 Daniela Nordholz: Jenseits binärer Konzepte – was wir über Geschlechter gelernt haben und wie wir dem entkommen können (falls wir das denn wollen)
11:00 Ines Beilke-Voigt: Geschlechtsspezifische Beigaben vs. anthropologischer Bestimmungen. Zur personalen Identität im Bestattungskontext
11:30 Matthias Jung/Andy Reymann: Funktion, Rolle oder Status? Die Unschärfen archäologischer Identitätszuweisungen am Beispiel von „Kriegern“ und „Kriegerinnen“
Diskussion in Gruppen zu Kernthemen der Vorträge
12.30 Mittagspause
14:00 Nicole Taylor: (In)Visible Gender: Urnfield cremations and gender relations
14:30 Susanne Moraw: Nonnosa und ihre Identitäten
15:00 Cathrin Hähn: Dis/ability und Konzepte von Identität
15:30 Kaffeepause
16:00 Diskussion in Gruppen zu Kernthemen der Vorträge, anschließend Abschlussdiskussion

 

Call for Papers

Sitzung der AG Geschlechterforschung am 4. Juli 2017 auf dem 9. Deutschen Archäologiekongress vom 3. – 8. Juli 2017 in Mainz
Die Vielfalt der Geschlechter: komplexe Identitäten statt binäre Konzepte

Die Geschlechterarchäologie hat in den vergangenen etwa 20 Jahren Geschlechter als Teil der sozialen Ordnung beschrieben und die traditionelle Zuweisung von Beigaben an Frauen und Männer aufgebrochen. Dabei ist deutlich geworden, dass der soziale Faktor häufig mit weiteren biologischen und kulturellen Aspekten verschränkt ist. Vor allem Alter und sozialer Status sind hier als wichtige Kriterien herausgearbeitet worden. Es ist ebenfalls deutlich geworden, dass auch innerhalb einer Kultur und Epoche die (Selbst-)Darstellung, Rollen, der Status oder die Aufgaben von Frauen und Männern in der Regel nicht einheitlich waren, ohne dass diese innerkulturellen Unterschiede bislang ausreichend differenziert untersucht worden sind. Stattdessen wurde oft noch zu generalisierend von Frauen oder Männern in der Kultur X oder der Epoche Y gesprochen.
Auf der Sitzung der AG in Mainz soll deshalb die Vielfalt weiblicher und männlicher Identitäten innerhalb jeweils einer Kultur beleuchtet werden. Die Entwicklung von Geschlechterrollen innerhalb eines individuellen Lebens soll ebenso betrachtet werden wie die unterschiedliche Wichtigkeit des sozialen Geschlechtes für einzelne Personen oder die Verschränkung des sozialen Faktors Geschlecht mit Aspekten wie Herkunft, Aufgaben, Religion, Familienstand, Sexualität etc. Willkommen sind besonders auch methodische Beiträge, die untersuchen, wie derartige Aspekte von Identitäten festgestellt werden können.

Wir bitten bis zum 31. März 2017 um eine Zusammenfassung, die 400 Zeichen nicht überschreiten soll. Die Zusammenfassung wird vom Organisationsteam des Archäologiekongresses auf dessen Website veröffentlicht.

Die Sprecherinnen der AG Geschlechterforschung
Jana Esther Fries
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Ulrike Rambuscheck
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