Rezension Karin Bojs: Mütter Europas – Die letzten 43 000 Jahre

Oli­via Stüs­si, 21.02.2025

Karin Bojs: Müt­ter Euro­pas – Die letz­ten 43.000 Jah­re. C.H. Beck Ver­lag, 2024

Die schwe­di­sche Wis­sen­schafts­jour­na­lis­tin Karin Bojs war bis 2013 Lei­te­rin der Wis­sen­schafts­re­dak­ti­on der schwe­di­schen Tages­zei­tung Dagens Nyhe­ter, schreibt jedoch wei­ter Kolum­nen für die­se Zei­tung. Sie erhielt die Ehren­dok­tor­wür­de der Uni­ver­si­tät Stock­holm und wur­de für ihre Arbei­ten mehr­fach aus­ge­zeich­net. Zuvor erschien von Karin Bojs „Mei­ne Euro­päi­sche Fami­lie. Die letz­ten 54 000 Jah­re“. Dar­in begibt sie sich mit­tels DNA-For­schung auf die Suche nach der eige­nen Fami­li­en­ge­schich­te. In ihrem neu­es­ten Werk «Müt­ter Euro­pas. Die letz­ten 43 000 Jah­re» –  2024 im C.H.Beck Ver­lag auf Deutsch erschie­nen – befasst sie sich erneut inten­siv mit DNA-Ana­ly­sen und was dadurch über die Lebens­wei­se der Frau­en und die Geschlech­ter­ver­hält­nis­se all­ge­mein her­ge­lei­tet und rekon­stru­iert wer­den kann.

Der Auf­bau der Kapi­tel ist chro­no­lo­gisch geglie­dert und beginnt mit einem Kapi­tel zur soge­nann­ten „Venus von Wil­len­dorf“ (1) – also ca. 30 000 vor Chris­tus – und endet mit der Erläu­te­rung ver­schie­de­ner Publi­ka­tio­nen zur Rol­le von Frau­en in der Wikin­ger­zeit. Dabei setzt sie sich inhalt­lich nicht pri­mär mit „Müt­tern“ aus­ein­an­der, son­dern beginnt jedes Kapi­tel mit einer all­ge­mei­nen Über­sicht zu unter­schied­li­chen archäo­lo­gi­schen und wis­sen­schaft­li­chen Debat­ten über den euro­päi­schen Kon­ti­nent, wobei sie immer wie­der ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven ein­an­der kri­tisch gegen­über­stellt. Die geo­gra­phi­schen Aus­flü­ge nach Afri­ka, Ame­ri­ka und den Nahen Osten kom­ple­men­tie­ren und unter­stüt­zen das Gesamt­bild und ermög­li­chen es die dar­auf fol­gen­den frau­en­spe­zi­fi­schen Infor­ma­tio­nen in einen glo­ba­len his­to­ri­schen Kon­text ein­zu­bet­ten. Dabei ver­knüpft Bojs die­se Infor­ma­tio­nen gekonnt mit der The­ma­tik der Migra­ti­on. Dies macht die Lek­tü­re ange­nehm infor­ma­tiv, gut ver­ständ­lich und damit auch nie­der­schwel­lig. Es bil­det einen guten Über­blick und einen ein­fa­chen Ein­stieg in die The­ma­tik von DNA-Ana­ly­sen, Geschlech­ter­rol­len und Frau­en in archäo­lo­gi­schen Dis­kur­sen. So setzt sich Bojs mit der Debat­te über die Anwend­bar­keit des Drei­pe­ri­oden­sys­tems – der klas­si­schen Ein­tei­lung in Stein- Bron­ze- und Eisen­zeit –  kri­tisch aus­ein­an­der, por­trä­tiert ver­schie­de­ne Frauen(-Figuren), wie die „Venus von Wil­len­dorf“,  Lucy,  die rote Dame von El Mirón, das soge­nann­te Kau­gum­mi­mäd­chen oder das Tyb­rind-Vig-Mäd­chen. Dabei setzt sie die­se in den dazu­ge­hö­ri­gen geo­gra­phisch-archäo­lo­gi­schen Fund­kom­plex.

„Nach mei­ner Auf­fas­sung ist es wich­tig, von der Geschich­te zu ler­nen, alle Tech­ni­ken, die es gibt, anzu­wen­den und auf Fak­ten basie­ren­de Schluss­fol­ge­run­gen zu zie­hen. Jetzt haben wir neue Tech­nik, unter ande­rem DNA, aber auch Iso­to­pe, Son­nen­stür­me, GPS, 3D-Mikro­sko­pe und vie­les ande­re. Dank sol­cher Tech­nik und auch lin­gu­is­ti­schen oder geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher For­schung haben die Wis­sen­schaft­ler ganz ande­re Mög­lich­kei­ten zu unter­su­chen, wie es wirk­lich war mit den Geschlech­ter­rol­len und den unter­schied­li­chen Migra­ti­ons­mus­tern von Män­nern und Frau­en.“ (Bojs 2024, S. 227)

Inter­es­sant in ihrer Aus­ein­an­der­set­zung war ihre häu­fi­ge Bezug­nah­me auf Mari­ja Gim­bu­tas’ Theo­rien, ins­be­son­de­re, weil Gim­bu­tas als Archäo­lo­gin nicht ernst genom­men wird und eine ernst­zu­neh­men­de Bezug­nah­me auf ihre Arbeit im aka­de­mi­schen Umfeld nicht als emp­feh­lens­wert gilt. Dabei wird  ihre Kur­g­an­hy­po­the­se durch neue­re DNA Ana­ly­sen nun teil­wei­se gestützt.  Sogar Colin Ren­frew  – zeit­le­bens ihr gröss­ter Kri­ti­ker – ent­schul­dig­te sich öffent­lich mit den Wor­ten bei Gim­bu­tas : „Cer­tain­ly I was wrong.“ (2)

Dabei ist es Bojs anzu­rech­nen, dass sie sich durch­aus kri­tisch mit Gim­bu­tas’ Theo­rien aus­ein­an­der­setzt. In ihrem Nach­wort schreibt sie: „Mari­ja Gim­bu­tas zog Schluss­fol­ge­run­gen, wie sich die Geschlech­ter­rol­len in ver­schie­de­nen Epo­chen ver­än­dert haben. Viel­fach lag sie rich­tig, wie neue DNA-For­schun­gen bestä­ti­gen. Jeden­falls rich­ti­ger als ihre (männ­li­chen) Arbeits­kol­le­gen und Zeit­ge­nos­sen. Aber sie irr­te sich auch. Sie wur­de von einer roman­ti­schen Auf­fas­sung getrie­ben, wonach ein­drin­gen­de Indo­eu­ro­pä­er ganz für das Böse, Krie­ge­ri­sche und Patri­ar­cha­li­sche stan­den, wäh­rend die Bau­ern­be­völ­ke­rung „Alt­eu­ro­pas“ fried­lich und mit einem eher weib­li­chen Fokus gelebt habe. So ein­fach war es nicht, nach allem, was wir heu­te wis­sen.“ ( Bojs 2024, S. 226)

Der Ver­such 42 000 Jah­re Mensch­heits­ge­schich­te über meh­re­re Kon­ti­nen­te hin­weg auf 227 Sei­ten unter­zu­brin­gen, führt jedoch auch zu sprach­li­chen und inhalt­li­chen Ver­all­ge­mei­ne­run­gen, wel­che teil­wei­se ein fal­sches Bild zeich­nen. So wird durch­wegs von den Aurigna­ci­ern, den Solut­re­ni­ern, den Schnur­ke­ra­mi­kern oder Kel­ten gespro­chen, was für alle genann­ten und gera­de für letz­te­re Grup­pe eine fal­sche und unprä­zi­se Fremd­be­zeich­nung für in Wahr­heit sehr vie­le klei­ne Volks­grup­pen ist. Auch kommt es vor, dass Daten und Ana­ly­sen sti­lis­tisch zu Wahr­hei­ten ver­all­ge­mei­nert wer­den. So bleibt es teil­wei­se nicht beim rei­nen Auf­zäh­len von Fak­ten, son­dern es wird eine pas­sen­de Inter­pre­ta­ti­on hin­zu­ge­fügt, die so eigent­lich im Kon­junk­tiv ste­hen müss­te.

So schreibt sie „ Andrew Sher­rat hat auch recht damit, dass das Pflü­gen mit Och­sen in allen bekann­ten Land­wirt­schafts­kul­tu­ren ein Job für Män­ner war. Es ist phy­sisch schwer, und die Frau­en konn­ten neben­her nicht noch auf ihre klei­nen Kin­der auf­pas­sen. Typi­sche Frau­en­be­schäf­ti­gun­gen in tra­di­tio­nel­len Land­wirt­schafts­ge­sell­schaf­ten wie Korn mah­len, Backen, die Her­stel­lung von Kera­mik und Tex­ti­li­en sowie das Bewirt­schaf­ten eines klei­nen Fel­des mit Hand­werk­zeu­gen las­sen sich bes­ser mit dem Stil­len und der Betreu­ung von Klein­kin­dern kom­bi­nie­ren. Dass das Joch, das Rad und der Pflug Män­nern mehr Macht auf Kos­ten der Frau­en gege­ben hat, ist des­halb eine logi­sche Schluss­fol­ge­rung; die Hypo­the­se mag also rich­tig sein. Aber noch gibt es kei­ne direk­ten Hin­wei­se dafür.“ (Bojs 2024, S. 140)

Es ist kei­nes­wegs eine „logi­sche Schluss­fol­ge­rung“, dass mit den von Bojs als typisch männ­li­chen beschrie­be­nen Arbei­ten Macht auf Kos­ten von Frau­en aus­ge­übt wird. Die kör­per­li­che Kraft mit Macht­aus­übung gleich­zu­set­zen, ist eine gesell­schaft­lich kon­stru­ier­te Denk­wei­se, die von unse­rem heu­ti­gen Zeit­geist, der von Kri­sen, Krie­gen und gewalt­tä­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen geprägt ist, bestimmt wird und stark mit Macht­aus­übung über ande­re und deren Unter­drü­ckung zusam­men­hängt. So sind wir es gewohnt, kör­per­li­che Kraft mit Macht oder Stär­ke und weib­lich kon­no­tier­te Tätig­kei­ten mit Schwä­che zu asso­zi­ie­ren und damit das eine auf- bzw. das ande­re abzu­wer­ten. Doch wir kön­nen nicht wis­sen, ob dies auch in der Ver­gan­gen­heit der Fall war. Es gibt und gab unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen dar­über, was Macht ist und wie die­se zum Aus­druck kommt. Bei­spiels­wei­se kann auch Wis­sen oder die Mög­lich­keit Zeit mit Kin­dern und in der siche­ren Umge­bung der Dorf­ge­mein­schaft zu ver­brin­gen, Macht bedeu­ten oder auch ein Pri­vi­leg dar­stel­len. Aus­ser­dem ken­nen wir die gesell­schaft­li­che Rele­vanz und Bedeu­tung von Tex­til- oder Kera­mik­pro­duk­ti­on in prä­his­to­ri­schen Gesell­schaf­ten nicht im Detail. Das imma­te­ri­el­le Kul­tur­er­be, unter ande­rem bestehend aus Wert- und Norm­vor­stel­lun­gen über das Wesen der Welt und das gesell­schaft­li­che Zusam­men­le­ben und die Bedeu­tung von Macht in die­sem Gefü­ge, kann nur ansatz­wei­se erahnt wer­den und könn­te völ­lig anders gear­tet gewe­sen sein, als wir uns dies vor­stel­len kön­nen.

Ein offe­ner und trans­pa­ren­ter Umgang mit sub­jek­ti­ven und zeit­ge­nös­sisch gepräg­ten Inter­pre­ta­tio­nen auf einer tie­fe­ren geis­ti­gen Ebe­ne bzw. die Kenn­zeich­nung von his­to­ri­scher Ima­gi­na­ti­on (im Sin­ne Rein­hard Bern­becks, in: Mate­ri­el­le Spu­ren des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ter­rors. Zu einer Archäo­lo­gie der Zeit­ge­schich­te. Tran­script, Bie­le­feld 2017 ), wäre ein wün­schens­wer­ter Ansatz gewe­sen,  gera­de weil Bojs auch die The­ma­tik der Migra­ti­on in den Fokus stellt und den Aspekt der zeit­ge­nös­si­schen Prä­gung selbst betont: „Ich habe in die­sem Buch wie­der­holt betont, dass Geschichts­schrei­bung immer von ihrer Zeit geprägt wird. Im Neun­zehn­ten Jahr­hun­dert, als die Archäo­lo­gie als Wis­sen­schaft neu war, spiel­ten natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Strö­mun­gen eine gros­se Rol­le. Sol­che Prin­zi­pi­en leben in erstaun­li­che hohem Grad in der heu­ti­gen Archäo­lo­gie wei­ter, unter ande­rem in der Ter­mi­no­lo­gie. Als der Nazis­mus im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert auf­kam, waren Miss­deu­tun­gen von Archäo­lo­gie, Lin­gu­is­tik und Volks­tums­for­schung fun­da­men­ta­le Bau­stei­ne des Ideen­ge­bäu­des. Nicht zuletzt schwärm­ten die Nazis für frü­he Indo­eu­ro­pä­er und für Wikin­ger.“ (Bojs 2024, S.226)
Die­ses Bei­spiel ver­deut­licht sehr schön, wie stark unse­re gesell­schaft­li­che Prä­gung und damit die gän­gi­gen Wert- und Norm­vor­stel­lun­gen unser Den­ken und Han­deln beein­flus­sen.
Nichts­des­to­trotz emp­fand ich die Müt­ter Euro­pas als eine sehr span­nen­de und auch berei­chern­de Lek­tü­re. Der Inhalt ist nie­der­schwel­lig, gut geschrie­ben und erleich­tert damit Eins­tig in das The­ma DNA-For­schung,  Archäo­lo­gie und Vor­stel­lun­gen über die Geschlech­ter­rol­len. Dar­um gibt es von mir eine kla­re Kauf- oder Ausleih‑, sowie Lese­emp­feh­lung!

 

Fuß­no­ten:

(1) Der Begriff der “Venus­dar­stel­lun­gen” oder “Venus-Kunst” ist ein Über­be­griff für eine Über­ka­te­go­rie, die sich auf die Dar­stel­lung von Frau­en auf Gra­vie­run­gen, Reli­efs, Male­rei­en und voll­plas­ti­schen Frau­en­sta­tu­et­ten bezieht. Die Figu­ri­nen selbst sind aus den ver­schie­dens­ten Mate­ria­li­en gefer­tigt. Geprägt wur­de der Venus-Begriff durch den fran­zö­si­schen Archäo­lo­gen Mar­quis de Vibraye, als wäh­rend des 19 Jahr­hun­derts die ers­ten Frau­en­fi­gu­ren in Frank­reich gefun­den wur­den. Sei­nen Fund von 1864 in der Höh­le Lau­ge­rie-Bas­se – ein nack­te weib­li­che Stau­tet­te – nann­te er “Vénus impu­di­que” bzw. “unzüch­ti­ge Venus”. Dies ver­mut­lich in Anleh­nung an die römi­sche Venus oder der grie­chi­schen Aphro­di­te – die bei­de für Lie­be, Schön­heit und damit für die “pure Weib­lich­keit” ste­hen. Die Nackt­heit der Figu­ri­ne wur­de aller­dings als unan­stän­dig und unge­heu­er­lich – also unzüch­tig – emp­fun­den. Der Begriff konn­te sich für ein Lai­en­pu­bli­kum wie auch für die wis­sen­schaft­li­che Fach­welt gröss­ten­teils durch­set­zen (Röder et.al 1996, 193; Wolf 2010, 43 ) Heu­te gilt der Begriff in der archäo­lo­gi­schen Fach­welt aller­dings als umstrit­ten und wird kaum mehr ver­wen­det. Den­noch hat sich der Name der „Venus von Wil­len­dorf“ als eigen­stän­di­ge Bezeich­nung gera­de aus­ser­halb die­ser durch­set­zen kön­nen und wird nach wie vor gebraucht, wenn von die­ser Figu­ri­ne die Rede ist.

(2) Lord Colin Ren­frew | Mari­ja Redi­via: DNA and Indo-Euro­pean Ori­g­ins, unter: youtube.com/watch?v=pmv3J55bdZc&t=3759s (auf­ge­ru­fen am 21.2.2025)

 

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