Die amerikanische Archäologin Harriet Boyd Hawes (1871–1945)
Autorin: Ulrike Rambuscheck, Datum: 13.11.2020
In den verschiedenen Disziplinen, die alle unter dem Terminus Archäologie zusammengefasst werden können (u. a. Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie, Ägyptologie), studieren mehr Frauen als Männer. Dennoch bekleiden männliche Archäologen bis heute die höchsten Stellen im Fach Archäologie. Dies gilt besonders für Universitäten und Forschungseinrichtungen, aber auch für Bodendenkmalämter. Nur in Museen scheint sich langsam eine Trendwende abzuzeichnen. Besonders in der öffentlichen Wahrnehmung wird Archäologie mit Männern assoziiert: Publikumswirksame Filme in Kino und Fernsehen, Videospiele und populärwissenschaftliche Bücher vermitteln einen Eindruck archäologischer Arbeit, die sich hauptsächlich auf Ausgrabungen abspielt, wo mehrheitlich Archäologen agieren. Ein Mittel, dieses Bild zu korrigieren, ist, die Pionierinnen des Fachs, die historischen Archäologinnen, zu würdigen.
Als ein Beispiel für viele soll die Ausgräberin von Gournia auf Kreta, Harriet Boyd Hawes, vorgestellt werden.
Harriet Boyd wurde 1871 in Boston geboren. Im Museum für Alte Kunst in Boston, wo es eine der besten Abgusssammlungen von griechischen und römischen Skulpturen in den USA gab, wurde ihr Interesse für alles Griechische geweckt. Sie studierte Alte Sprachen, besonders Griechisch, am Smith College in Northampton, Massachusetts. Nach Abschluss des Colleges arbeitete Harriet Boyd als Lehrerin. Um sich weiter zu qualifizieren, beschloss sie, in Europa Classical Studies (entspricht in etwa der Altphilologie im deutschsprachigen Raum) zu studieren. 1896 schrieb sie sich in der American School of Classical Studies in Athen als Studentin ein. Das Ausbildungsprinzip der American School bestand darin, Vorlesungen mit mehrtägigen Exkursionen zu verbinden. Von diesen Exkursionen wurden Frauen manchmal ausgeschlossen, von Ausgrabungen immer. Im ersten Studienjahr 1896/97 war Harriet Boyd zusammen mit einer weiteren Studentin die einzige Frau unter neun Studenten, im Studienjahr 1898/99 waren unter 15 Student*innen vier Frauen und im Studienjahr 1899/1900 gab es acht Frauen unter 15 Student*innen.
Auf mehrtägigen Exkursionen suchte Harriet Boyd nach einem geeigneten Ort, wo sie eine Ausgrabung eröffnen und Material für ihre Abschlussarbeit sammeln könnte. Der Direktor der American School hatte aber das Vorurteil, dass Frauen für Ausgrabungen nicht geeignet seien, weshalb Harriet Boyd gezwungen war, auf eigene Kosten eine Ausgrabung durchzuführen. Ihre Wahl fiel schließlich auf Kavousi in Kreta. 1900 gab es zwei Grabungskampagnen, bei der Harriet Boyd Männer aus dem Dorf als Grabungshelfer einstellte. 1901 erhielt sie vom Smith College ihren Mastertitel für eine Arbeit über die eisenzeitlichen Plätze in der Nähe des Dorfes Kavousi.
1901 wollte Harriet Boyd erneut auf Ausgrabung gehen. Wiederum auf Kreta suchte sie nach einem geeigneten Ort. Sie begann mit Ausgrabungen auf einem Hügel in der Nähe der Gournia-Bucht. Gournia erwies sich als eine minoische Handwerkersiedlung aus der Bronzezeit, die heute als eine der wichtigsten Fundstätten im ägäischen Raum gilt. 1903 und 1904 erfolgten zwei weitere Ausgrabungskampagnen. Zeitweilig waren etwa 100 einheimische Männer und elf einheimische Frauen als Grabungshelfer*innen von Harriet Boyd angestellt. Ihr wissenschaftliches Grabungsteam bestand bis auf einen Mann aus Frauen. Mithilfe der Untersuchung weiterer Fundplätze gelang es Harriet Boyd, eine Chronologie des bronzezeitlichen Kreta aufzustellen. Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos auf Kreta seit dem Jahr 1900, kam ihr allerdings zuvor, seine eigene Chronologie des Gebiets auf einem Kongress vorzustellen, womit er als der Erste in die Geschichte einging, eine Chronologie dieses Gebietes und dieser Zeit der Öffentlichkeit präsentiert zu haben.
Mit ihrer Heirat 1906 mit dem britischen Anthropologen Charles Hawes und der Geburt von zwei Kindern gab sie ihre Karriere als Collegelehrerin und Feldarchäologin auf. Allerdings bereitete sie die Publikation ihrer Ausgrabungen in Gournia vor, die 1908 erschien und als Meilenstein in der Präsentation von archäologischen Funden gilt.
1910 verlieh das Smith College Harriet Boyd Hawes die Ehrendoktorwürde. Von 1920 bis 1936 unterrichtete sie am Wellesley College, Massachusetts, Alte Kunst vom Paläolithikum bis zum frühen Christentum. 1945 ist sie in Washington D.C. gestorben.
Die Beschäftigung mit den Pionierinnen der Disziplin Archäologie korrigiert nicht nur das Bild vom männlichen Archäologen, es lenkt auch den Blick auf die Inhalte des Fachs und die kritische Auseinandersetzung mit diesen unter einer feministischen Perspektive. Besonders mit der Zweiten Frauenbewegung ab den 1970er Jahren hat sich eine neue Sicht auf Wissenschaft gebildet, die sich mit Frauen und ihren Erfahrungen und Lebensweisen als Untersuchungsgegenstand beschäftigt. Vielerorts wurden androzentrische Verzerrungen aufgedeckt und alternative Modelle entworfen, so auch in der Archäologie, wo die archäologische Geschlechterforschung heute als ernst zu nehmende Forschungsrichtung gilt.
Die Ausführungen zu Harriet Boyd Hawes beruhen auf dem Artikel:
Ulrike Rambuscheck, Harriet Ann Boyd Hawes und die Entdeckung des minoischen Kreta. In: Jana Esther Fries/Doris Gutsmiedl-Schümann (Hrsg.), Ausgräberinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Ausgewählte Porträts früher Archäologinnen im Kontext ihrer Zeit. Frauen – Forschung – Archäologie 10 (Münster 2013) 81–93.
Die Publikation über Gournia lautet:
Harriet A. Boyd Hawes/Blanche E. Williams/Richard B. Seager/Edith H. Hall, Gournia, Vasiliki and Other Prehistoric Sites on the Isthmus of Hierapetra (Philadelphia 1908).
Literatur zur archäologischen Geschlechterforschung gibt es auf: https://femarc.de/blog/263-grundlagenliteratur.html
Dieser Beitrag nimmt an der Blogparade #femaleheritage der Monacensia teil: https://blog.muenchner-stadtbibliothek.de/frauen-und-erinnerungskultur-blogparade-femaleheritage/

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