Feminist*in sein in der Klassischen Archäologie in Deutschland: Was, Wie, Warum?
Autorin: Stephanie Pearson, Datum: 05.07.2021
Dieser Essay basiert auf einem Vortrag, den die Autorin im Mai 2021 an der Universität Köln präsentierte. Die Autorin bedankt sich bei der Fachschaft für die Einladung und die anregende Diskussion sowie bei der FemArc-Redaktion für die freundliche Unterstützung.
Obwohl der Feminismus als soziopolitische Bewegung in der westlichen Kultur schon lange existiert, ist Feminismus in der Klassischen Archäologie in Deutschland noch wenig spürbar. Im Vergleich zu anderen archäologischen Subfächern wie die Ur- und Frühgeschichte bleibt die Klassische Archäologie in diesem Sinne zurück. Der Unterschied ist nicht nur nach Fach, sondern auch nach Geographie feststellbar: Während in Großbritannien und in den USA etwas mehr von feministischen Ansätzen in der Klassischen Archäologie die Rede sein kann, ist dies in Deutschland viel weniger der Fall. Die Klassische Archäologie in Deutschland hat einiges an feministischen Ansätzen nachzuholen. Was heißt das? Wie geht das? Warum sollte das uns interessieren – und zwar brennend?
Was ist Feminismus?
Schon beim Begriff Feminismus treten Missverständnisse auf. Der Feminismus und vor allem das Wort Feministin haben in Deutschland einen schlechten Ruf, was mich als langjährig in Deutschland wohnende Amerikanerin immer wieder irritiert. Während der Begriff in den USA breite Anwendung findet, wird er in Deutschland kaum verwendet. Doch er muss dringend enttabuisiert werden, um die Gleichstellung der Gender möglichst schnell und effektiv voranzubringen, sowohl in der Archäologie als auch in der Gesellschaft. Dass nun an mehreren Stellen von Gender die Rede ist, ist kein Ersatz. Solange wir den Begriff Feminismus nicht benutzen, werden seine Prinzipien nicht umgesetzt.
Dabei müssen wir uns natürlich erstmal darüber im Klaren sein, was Feminismus heißt. Meine Definition fängt damit an, was Feminismus nicht ist. Denn eine gewisse Polarisierung, und vielleicht auch ein gewisses Suchen nach einem Feindbild, hat hier schon Verwirrung gestiftet.
Feminismus ist nicht:
– Männerhass. Dass Frauen* im Mittelpunkt des Feminismus stehen, heißt keineswegs, dass Männer* zum großen Feind gemacht werden. Ein wichtiger Teil des Feminismus besteht darin, Menschen nicht pauschal, sondern als Individuen zu betrachten. Außerdem sind einige der überzeugtesten Feminist*innen tatsächlich Männer* – dazu gleich mehr.
– BH-Verbrennung. Obwohl dieses Symbol des Feminismus in den 1960er Jahren in den USA Teil einer wichtigen Bewegung war, die wir rückblickend als „die zweite Welle“ des Feminismus bezeichnen, gehört diese spezifische Art Widerstand gegen die soziopolitische Unterdrückung der Frau nicht mehr zum Hauptanliegen des modernen Feminismus. Sechzig Jahre später befinden wir uns mittlerweile in der vierten Welle des Feminismus, die ein noch viel komplexeres Bild des Patriarchats bekämpft. (Die vier Wellen des Feminismus können vieles in der Wissenschaft sowie unserer gemeinsamen Geschichte erklären, werden aber bedauerlicherweise in der Forschung kaum angesprochen.)
– Frauensache. Weil wir alle eine gemeinsame Existenz auf dieser Welt führen, ist das Wohl aller Menschen untrennbar miteinander verknüpft. Die Gleichstellung aller Menschen geht also jede einzelne Person an. (Und nicht nur aus moralischen Gründen. Skeptiker*innen können sich anhand von Oxfam und der WorldBank über ‚shared prosperity‘ informieren.)
Feminismus ist vielmehr:
– Das Streben nach gleichen Rechten und Chancen für Menschen aller Gender.
Hier muss betont werden, dass es bei der Gleichstellung nicht darum geht, dass alle Menschen gleich behandelt werden, sondern dass alle die gleichen Chancen bekommen. Diese gleichen Chancen bedeuten manchmal eine unterschiedliche, dem Fall angepasste Behandlung. Zum Beispiel: Polizist*innen in mehreren europäischen Ländern bekommen alle die gleichen kugelsicheren Westen zum Dienst ausgehändigt. Diese Westen sind so geschnitten, dass sie nur Menschen ohne Brüste passen. Bei Menschen mit Brüsten bleibt eine lebensgefährliche Lücke im Bauchbereich bestehen oder die Westen sind so unbequem, dass sie die Arbeit gravierend beeinträchtigen (Criado Perez 2020, 126–7). In diesem Fall führt eine Gleichbehandlung keineswegs zu gleichen Chancen für alle Polizist*innen – die gleiche Chance, nicht bei der Arbeit lebensgefährlich verletzt zu werden –, sondern bietet einigen den beabsichtigten Schutz und bringt andere in Lebensgefahr.
Eine Konsequenz dieser Definition von Feminismus ist, dass Menschen aller Gender, auch Männer*, wunderbar Feminist*innen sein können. Denn wer will sich gegen gleiche Chancen für alle stellen? Gerade wenn Männer* vom Feminismus selbst profitieren können. Auch sie sind an gewissen Stellen benachteiligt, und dem Feminismus geht es letztendlich um die Gleichstellung aller Menschen. Das exzellente Buch von JJ Bola Mask Off. Masculinity Redefined (2019, deutsche Übersetzung 2020) handelt genau davon. Wie Bola erklärt, betrifft Suizid beispielsweise Männer* häufiger als Frauen*. Grund dafür kann eine emotionale Verzweiflung sein, die im gesellschaftlichen Bild des ‚erfolgreichen Mannes‘ wurzelt. Der Druck, einem genderspezifischen Vorbild nachzukommen, wird durch den Feminismus verarbeitet und reduziert. Auch solche genderübergreifenden Themen wie Elternschutz, die Menschen aller Gender zugutekommen, werden durch den Feminismus ans Licht gebracht und verarbeitet.
Wenn diese gesellschaftlichen Probleme schon an einigen Stellen bekämpft werden, und nicht nur für Frauen*, ist der Feminismus an sich überhaupt nötig? Frauen* sind doch viel freier als je zuvor, mag die Kritik lauten. Hose tragen etc. etc. Es stimmt zwar, dass Frauen* in vielen Ländern jetzt das Wahlrecht haben (in der Schweiz seit erstaunlich wenigen Jahren – damit wir nicht vergessen, dass Frauen* im heutigen Europa keine Ausnahme sind). Auch haben sie sich das Recht auf Berufsarbeit ohne Genehmigung des Ehemannes erstritten (in Deutschland seit erstaunlich wenigen Jahren). Insgesamt haben Frauen* auf jeden Fall viele Rechte errungen, die auch Männer* haben. Zugleich aber leiden sie immer noch unter erheblichen Benachteiligungen. Dies zeigt das beeindruckende Buch von Caroline Criado Perez Unsichtbare Frauen (2020). Hierin sammelt die Autorin viele Studien, die keinen Zweifel zulassen: Frauen* weltweit sind immer noch sozio-ökonomisch und gesundheitlich benachteiligt.
Was ist Feminismus in der Archäologie?
Vom allgemeinen Konzept des Feminismus kehren wir nun zurück zum Hauptthema: Feminismus in der Archäologie. Die Wirkung und gleichzeitig die Kampffelder des Feminismus im archäologischen Fach können in drei Bereiche untergliedert werden.
Neue Strukturen
Studien- und Arbeitsbedingungen werden langsam unter feministischem Einfluss umkonzipiert. Frauen* besetzen Leitungspositionen häufiger als zuvor (wie z.B. dem Rechenschaftsbericht der zentralen Frauenbeauftragten an der Humboldt-Universität zu entnehmen ist). Auch die aktuellen Machtstrukturen sowie der übliche Karriereverlauf an Universitäten werden sich nach meiner Einschätzung langsam ändern, von streng hierarchisch und linear zu kollaborativer und vielfältiger. Das brillante Buch von Sarah Cooper Wie du erfolgreich wirst, ohne die Gefühle von Männern zu verletzen (2021) macht sich über gerade diese traditionellen Machtstrukturen am Arbeitsplatz lustig. Diese anzusprechen ist ein Schritt in die Richtung, solche schädlichen Strukturen umzubauen.
Auch auf Ausgrabungen werden die Machtstrukturen verändert, nicht nur durch das Auftreten von Grabungsleiter*innen aller Gender, sondern durch flachere Hierarchien und einen stärkeren Fokus auf ein gesundes, kollegiales Miteinander. Eine bewusste Aufgabenverteilung ist in beiden Hinsichten entscheidend: Hilft die Grabungsleitung beim Schaufeln mit, machen Menschen aller Gender sowohl die Keramikanalyse (sonst oft den Frauen* zugeteilt) als auch die Spitzhackenarbeit (sonst oft den Männern* zugeteilt), läuft die Grabung nach feministischen Prinzipien. Auch das Einsetzen einer ‚Vertrauensperson‘ auf Grabungen, wie an der Universität Wien und der Humboldt-Universität zu Berlin geplant, gehört zu einem feministischen Ansatz. Die Vertrauensperson soll ein Mitglied des Grabungsteams sein, die sich wie ein*e Mediator*in einsetzt, wenn genderspezifische Konflikte drohen – wie es allzu häufig vorkommt.
Was geforscht wird
Dass sich viele Forschungen (sowohl in der Archäologie als auch in anderen Fächern) seit langem auf männliche Subjekte konzentriert, wenn auch unbewusst, ist durch methodologische Studien belegt. Auf einige davon wird gleich näher eingegangen. Stellvertretend kann hier ein Zitat des berühmten Anthropologen Claude Lévi-Strauss aus dem Bericht über ein indigen-brasilianisches Volk dienen: „Das ganze Dorf reiste am nächsten Tag in ungefähr 30 Kanus ab, ließ uns allein mit den Frauen und Kindern in den verlassenen Hütten“. Wenn Frauen* und Kinder nicht als Teil des ‚ganzen Dorfes‘ betrachtet werden, werden logischerweise nur die Männer* dokumentiert und erforscht. Dass der Forscher sich selbst für eines der nichtexistierenden Wesen in den ‚verlassenen Hütten‘ hält, entlarvt außerdem den unerfüllbaren Wunsch des Forschers, seinen Einfluss auf seine Forschung auszuradieren. Obwohl 1936 geschrieben, verliert dieses Zitat nichts an Relevanz für die heutige Forschungslandschaft. Margaret Conkey und Janet Spector haben den andauernden Androzentrismus in der Archäologie in ihrem bahnbrechenden Artikel 1984 kritisiert, wie auch Shelby Brown in ihrem noch dreißig Jahre später publizierten Artikel (2014).
Ein feministischer Ansatz heißt jedoch nicht, dass Frauen* das Hauptforschungsthema werden. Denn Androzentrismus (Männerzentrierung) durch Gynozentrismus (Frauenzentrierung) zu ersetzen, ist nicht das Ziel, so Margaret Conkey: „to replace a patently androcentric and totalizing narrative with a gynocentric yet totalizing and limiting narrative is to miss the point of feminist scrutiny“ („ein offensichtlich androzentrisches und allumfassendes Narrativ durch ein gynozentrisches, doch immer noch allumfassendes, einschränkendes Narrativ zu ersetzen, verfehlt das Ziel eines feministischen Ansatzes“) (Conkey 2003, 876). Das Ersetzen von männlichen Akteuren durch weibliche Akteure ist mittlerweile unter dem herablassenden Namen der ‚Add women and stir‘-Methode bekannt, als wären Frauen* eine vergessene Zutat, die verspätet hinzugefügt wird.
Als Beispiel kann die Entstehung der Wonder Woman in der Comicindustrie dienen: Hier ersetzt eine weibliche Hauptfigur einen Mann (Superman), ohne dass sich sonst viel an der Person, am Narrativ oder der Welt (sowohl der fiktiven als auch unserer) ändert. Als Gegenbeispiel dient Madeline Millers Buch Circe, eine Neukonzeptualisierung der Odyssee. Hier besteht die Neuerung nicht nur in der weiblichen Hauptdarstellerin des Titels, sondern auch im revolutionären Umdenken der ursprünglichen patriarchalischen Narrative.
Genauso wenig wie feministische Archäologie bedeutet, ausschließlich Frauen* zu erforschen, bedeutet sie auch nicht, Gender als Hauptthema zu setzen. Dafür gibt es schon die Genderarchäologie, die häufiger praktiziert wird als die feministische Archäologie und deutlich anders ist. In der Genderarchäologie geht es darum, die Auswirkung von Gender in einer Gesellschaft anhand von deren materiellen Beweisen zu erforschen. Feministische Archäologie ist wiederum die Anwendung von feministischen Prinzipien im archäologischen Fach in der Art und Weise zum Beispiel, die hier beschrieben wird.
Vielmehr werden in der feministischen Archäologie Subjekte erforscht, die jenseits des ‚große Männer, große Geschichte‘-Modells liegen. Es werden nicht nur die männlichen Politiker unter die Lupe genommen oder die Kriege und große historische Ereignisse, sondern andere Menschen und lokalere Ereignisse. Es wird versucht, den komplexen Aufbau einer Gesellschaft zu verstehen, indem nicht nur Menschen aller Gender erforscht werden, sondern auch aller Alter, körperlichen Konstitutionen und anderer Eigenschaften.
Wie geforscht wird
Das Subjekt der Forschung zu ändern reicht aber nicht, es müssen auch die Forschungsmethoden nach feministischem Ansatz geändert werden. Conkey (2003) betont die Wichtigkeit der Bereitschaft, ein eigenes Argument zu überdenken und zu revidieren sowie ererbte Ideen zu hinterfragen. Selbstkritik ist auch für Shelby Brown (2014) von großer Bedeutung. Eine auf kritischem Dialog basierende Methode ist im Journal Archaeological Dialogues nachzulesen – eine der wenigen Publikationen, die einen Dialog auf Augenhöhe ins Zentrum stellt. Hier wird in einem Band ein Essay gleich mit mehreren ‚Response Essays‘ veröffentlicht, die auf den Anstoß des ersten Essays reagieren. Der letzte Essay im Band wird wieder von der gleichen Person verfasst, die den ersten Essay geschrieben hat – sozusagen als Reaktion auf die Reaktionen. Es entsteht dabei ein wahrer mehrstimmiger Dialog, in dem Kritik und Sichtweisen gleich auf Augenhöhe ausgetauscht werden können. Ist das nicht letztlich der Kern gewissenhafter Forschung? Digitale Veröffentlichungsformen ermöglichen eine Verbreitung dieses Konzeptes. Wir werden nach solchen Konzepten Ausschau halten.
Außerdem können Methoden und Fragestellungen so formuliert werden, dass sie Perspektiven auf und für bisher ignorierte oder benachteiligte Menschen eröffnen. Dies wird anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht.
‚Das‘ Männerbild in der Archäologie
Ein 2007 publizierter Artikel von Miriam Sénécheau bietet einen Leitfaden, wie die Klassische Archäologie selbstkritischer und generell feministischer vorangehen könnte. Der Artikel erschien in der meines Wissens einzigen feministischen Bücherreihe in der Archäologie, und zwar in der Reihe Frauen – Forschung – Archäologie, die von FemArc herausgegeben wird. Die meisten der in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge kommen eher aus der Ur- und Frühgeschichte als der Klassischen Archäologie; auch hier liegt Letztere etwas zurück.
Sénécheau zeigt, dass die gewöhnlichen Rekonstruktionsbilder von ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften stark dazu tendieren, erwachsene Männer* darzustellen. Ich würde noch einen Schritt weitergehen mit der Beobachtung, die am häufigsten dargestellten Männer* sind im Alter (zwischen 30 und 50) und Aussehen (körperlich makellos) nur ein kleiner Teil des realistischen Gesellschaftsspektrums. Wo sind die Männer* unter 30 Jahre? Wo sind die Männer*, die den hier als kanonisch präsentierten körperlichen Aufgaben nicht nachkommen können oder wollen? Die Behinderungen haben, die alt sind, die jung sind? Auch diese Männer* werden durch den unbedachten patriarchalischen Blick ausgeschlossen.
Hier sehen wir also, wie der Feminismus in der archäologischen Forschung auch Männern* zugutekommt. Denn durch eine feministische Methode wird der Blick nicht von Männer* auf Frauen* gelenkt, sondern von einem sehr eingeschränkten, sogar atypischen Bild der Männlichkeit auf andere Menschen gelenkt, inklusive andere Männer*, die diesem einen Typus nicht entsprechen. Es gibt letztlich viele Männer*, die durch die patriarchalische Weltanschauung nicht vertreten werden. Die Forschung scheint jedoch von einem Männerbild auszugehen, das dem Doryphoros – der Statue des griechischen Bildhauers Polyklet aus dem 5. Jh. v. Chr. und fortwährendem Musterwerk der idealen Körpermaße eines Mannes – verdächtig ähnlich ist. Waren die Griechen so überzeugend in dieser idealisierten Vorstellung, dass wir immer noch in ihrem Bann sind? Keine*r von uns ist der Doryphoros.
Sénécheau zeigt ferner, dass die Darstellungen bestimmter Tätigkeiten auch nach Geschlecht aufgeteilt sind. Die Männer* gehen auf die Jagd und hüten das Vieh, während die Frauen* töpfern. Ist diese Vorstellung begründet oder eher eine Annahme? Julia Koch hat auf die weitreichende Gefahr hingewiesen, dass Forscher*innen ihr eigenes, durch die gegenwärtige Kultur und Erfahrung gewonnenes Bild in historische Gesellschaften hineinprojizieren (2020). Dass Männer* ‚aktivere‘ Tätigkeiten ausüben, während Frauen* sich zuhause beschäftigen, entspricht nicht zufällig dem bürgerlichen Idealbild des modernen Westens. Die Jagd als primär männliche Tätigkeit wird jetzt jedoch hinterfragt. Möglicherweise musste die Jagd in solchen kleinen Gesellschaften so betrieben werden, dass alle körperlich leistungsfähigen Menschen zusammenarbeiten mussten, egal welchen Genders (Haas u.a. 2020). Das Töpfern wiederum ist interessant, weil die Rekonstruktion als Frauenaufgabe in der Vorgeschichte nicht mit dem kanonischen Bild der Klassischen Archäologie übereinstimmt. Aus dem antiken Griechenland sind primär Männer* als Töpfer bekannt. Kann dies darauf zurückzuführen sein, dass alltägliche Aufgaben erst zu einem angesehenen Beruf professionalisiert werden, wenn sie nicht von Frauen* zuhause, sondern von Männern* am Arbeitsplatz ausgeübt werden? Das Phänomen ist heute noch häufig zu sehen, wie zum Beispiel bei Kochen-versus-Sternekoch-Werden.
Männliche und weibliche Rollen sind aber durch die Evolution bestimmt, oder? Nein. Oder: Das können wir zu diesem Zeitpunkt gar nicht sagen, weil die biologische Forschung bisher überwiegend patriarchalisch geführt worden ist. Neue Forschungen in der Biologie zeigen, dass männerdominierte Machtstrukturen bei Affen (unter vielen anderen Tierarten) zwar seit langem als normal betrachtet worden sind (Lewis 2018). Aber frauendominierte Machtstrukturen sind viel verbreiteter als bisher dokumentiert, gerade weil sie kategorisch als Ausnahme behandelt wurden. Sie wurden nicht einmal eindeutig definiert. Nur wenn diese Art von Sozialstruktur als ein bedeutender Forschungsgegenstand anerkannt wird, wird sie richtig beobachtet, analysiert und ausgewertet werden können. Genauso muss die Archäologie die ererbten Vorstellungen patriarchalischer Sozialstrukturen hinterfragen, anstatt diese unbewusst zu bestätigen. Die Forschungen zum Wikinger-Krieger von Birka, der lange anhand kriegerischer Beigaben als männlich gedeutet, kürzlich aber durch forensische Analysen als Frau interpretiert wurde (Price 2019), sind hier wegweisend.
Vorwärts: Die Klassische Archäologie umdenken
Wie machen wir also in der Klassischen Archäologie weiter, an welchen Baustellen müssen wir umbauen? Die Klassische Archäologie ist antifeministisch in bestimmten Bereichen, die mit der Geschichte und den Gegenständen des Faches verbunden sind. Der Fokus auf Namen zum einen beinhaltet androzentrische Voreingenommenheiten. Namen von Menschen (überwiegend Männern*) und Orten, die in den schriftlichen und epigraphischen Quellen genannt werden, sind zwar von unschätzbarem Wert für die Klassische Archäologie. Dennoch steckt das Problem dahinter, dass hauptsächlich Männer* und die Orte ihrer großen Taten auf diese Weise verewigt werden. Außerdem werden diese Namen von antiken männlichen Schriftstellern nach gewissen Kriterien zur Dokumentation ausgewählt, noch ein beachtlicher Filter der Information. Die überlieferten Namen stellen eine Quelle dar, die unbedingt auszuschöpfen ist – doch mit dem Bewusstsein, dass sie die antiken androzentrischen Interessen fortsetzen.
In einer ähnlichen Richtung fokussieren Handbücher zur römischen Archäologie oft auf die Kaiser und nehmen diese als strukturellen Rahmen für alle weiteren behandelten Themen. Große Männer*, große Geschichte. Ein feministischer Ansatz würde den Blick nicht nur von den Kaisern auf die Kaiserinnen lenken (‚Add women and stir‘), wo nun Frauen* die neuen ‚großen Männer*‘ der Geschichte sind, sondern einen anderen Fokus, eine andere Methode wählen. Conkey sieht dies als eine Gelegenheit, sich auf Menschen zu konzentrieren und den komplexeren Zusammenhängen zwischen Akteuren und Ereignissen nachzugehen (2003). Das kann beispielsweise durch einen Fokus auf kleine, haushaltsbasierte Dynamiken erfolgen. Der Haushalt ist in diesem Sinne ein Geschenk an die moderne Klassische Archäologie, weil er den Horizont in sinnvolle Richtungen erweitert. Wo gesellschaftliche Gruppen traditionell durch einen Mann* definiert worden sind – eine Familie, ein Reich –, können jetzt andere Menschen auf die Bühne treten. Der Haushalt kann so definiert werden, dass neue Perspektiven auf die antike Gesellschaft geöffnet werden können. Sarah Levin-Richardson hat das Bordell in Pompeji aus feministischer Sicht als eine Art Haushalt neu gedacht, indem sie es mit dem breiten Spektrum von Menschen, die in diesem Gebäude ihren Sozialkreis aufgebaut haben, wiederbelebt (2019). Komplexe Beziehungen und Identitäten werden nicht abgelehnt oder pauschalisiert, sondern geschätzt.
Androzentrisch ist auch der Fokus auf gewisse Materialien. Öffentliche Gebäude und Porträtstatuen wurden in der Antike hauptsächlich von Männern* bezahlt, in Auftrag gegeben, errichtet, benutzt. Anhand dieses Materials eine Perspektive aus nicht-männlicher Sicht zu erforschen ist zweifelsohne möglich, aber schwierig. Problematisch sind in diesem Sinne Handbücher der Klassischen Archäologie, die diese Gattungen vor allen anderen bevorzugen, wie der sogenannten Kleinkunst (der Begriff weist klar auf seinen patriarchalischen Ursprung hin). Andere Gattungen ermöglichen einen Blick auf ein viel breiteres Spektrum der antiken Gesellschaft. Textilien sind ein vielversprechendes Material in dieser Hinsicht. Die Herstellung und Verarbeitung des Stoffes wurde von antiken Menschen aller Gender und Sozialschichten betrieben, von Sklaven bis zu Kaiserinnen. Hierzu könnten sehr interessante feministische, intersektionale Studien gemacht werden. Dass die Textilforschung erst in den letzten 20 Jahren an Bedeutung gewonnen hat und häufig von Frauen* betrieben wird, ist eine unmittelbare Folge des wachsenden feministischen Ansatzes in der Archäologie.
Dazu kommt noch das bekannte Problem, dass die antiken schriftlichen, bildlichen und archäologischen Quellen aus Elitenkontexten besser erhalten sind als die aus Nicht-Elitenkontexten. Archäologisches Material bleibt länger und besser erhalten, wenn es aus teurem Stein besteht als aus Holz, Stoff oder anderen billigeren Materialien. Das Problem ist insofern genderspezifisch, da Armut öfter Frauen* als Männer* betrifft. Diesem Fakt zugrunde liegen viele mit dem Patriarchat verbundene Dynamiken (Krause 1994/5), die heute noch herrschen, unter anderem die unbezahlte Care-Arbeit, das niedrigere Arbeitsentgelt für Frauen* als für Männer* und das Tabu gegen berufstätige Frauen*. Das heißt, dass die erhaltenen archäologischen Reste auch in dieser Hinsicht Frauen* weniger als Männer* repräsentieren (Seiler 2011). Nach den geschlechtsabhängigen Aspekten der Armut zu fragen und deren Einfluss auf unsere Forschung bewusst zu machen, gehört zu einem feministischen Ansatz. Dies ist darüber hinaus eine intersektionale Fragestellung – passend zu unserer vierten Welle des Feminismus –, indem sozialökonomische Faktoren als Teil des Gesamtbilds miteinbezogen werden.
Selbst wenn diese Problemfelder schwierig zu korrigieren sind – ich selbst bin erst am Anfang des nötigen Umdenkens –, können wir immerhin eines sofort verbessern: Wir können ab jetzt bewusster mit den Problemen umgehen. Vor allem ist es wichtig, diese in der Lehre anzusprechen. Die Nachwuchsgeneration denkt über Gender, Machtbeziehungen und Sozialgerechtigkeit schon viel intensiver nach als wir älteren Menschen. Studierende werden sich feministische Fragen zum archäologischen Material stellen, ob wir sie explizit ansprechen oder nicht. Respekt und Verantwortungsbewusstsein erfordern es, transparent mit ihnen über diese gegenwärtig höchst relevanten Themen zu reden. Und wenn das unsere Forschung, sogar unsere eigene Gesellschaft feministisch beeinflusst, umso besser.
Bibliographie
Bola, JJ (2019). Mask Off. Masculinity Redefined. London, Pluto Press. (Deutsch: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Alptraum von Jungs ist, 2020. München, hanserblau.)
Brown, S. (2014). Feminist Research in Archaeology: What Does It Mean? Why Is It Taking So Long? Feminist Theory and the Classics. N. S. Rabinowitz und A. Richlin. New York, Routledge: 238–271.
Conkey, M. (2003). Has Feminism Changed Archaeology? Signs 28(3): 867–880.
Conkey, M.W. und J.D. Spector (1984). Archaeology and the Study of Gender. Advances in Archaeological Method and Theory 7: 1–38.
Criado Perez, C. (2020). Unsichtbare Frauen. Wie eine von Männern gemachte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München, btb.
Haas, R. u.a. (2020). Female hunters of the early Americas. Science Advances: 1–10.
Koch, J. (2020). Bildungsbürger haben ihre Vorstellungen vom Familienleben idealisiert und in die Vorgeschichte hineinprojiziert. Begleitendes Interview zur ZDF-Dokumentation Mächtige Männer – Ohnmächtige Frauen? Interviewerin: B. Tanner.
Krause, J.-U. (1994/5). Witwen und Waisen im Römischen Reich, Habilitationsschrift, Stuttgart, Steiner Verlag.
Lévi-Strauss, C. (1936). Contribution à l’étude de l’organisation sociale des Indiens Bororo. Journal de la société des américanistes 28(2): 269–304.
Levin-Richardson, S. (2019). The Brothel of Pompeii: Sex, Class and Gender at the Margins of Roman Society. Cambridge, Cambridge University Press.
Lewis, R.J. (2018). Female Power in Primates and the Phenomenon of Female Dominance. Annual Review of Anthropology: 533–551.
Miller, M. (2018). Circe. London, Bloomsbury.
Price, N. u.a. (2019). Viking warrior women? Reassessing Birka chamber grave Bj.581. Antiquity, 93(367), 181–198.
Seiler, S., Hrsg. (2011). Armut in der Antike: Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Trier, Rheinisches Landesmuseum.
Sénécheau, M. (2007). Motive mit Tradition. Lebensbilder und Geschlechterrollen in gegenwärtigen Schulbüchern. Science oder Fiction? Geschlechterrollen in archäologischen Lebensbildern. J.E. Fries, U. Rambuscheck und G. Schulte-Dornberg. Münster, Waxmann: 123–162.
Kulturwissenschaften aus nicht-binärer Perspektive:
Blog der Society of Classical Studies (Link). Insbesondere die Reihe ‚In Dialogue: Trans Studies and Classics‘.
Wissenschaft von Dr. Kit Heyam (Link). Persönliche Empfehlung: Vortrag ‚Invisible women: uncovering gendered history in the V&A’s Early Modern collections‘ im Victoria and Albert Museum (Link).
Blog Essay ‚Queer Classics‘ von Hannah Abigail Clarke auf Eidolon (Link).
SweetBitter, ‚An investigative history podcast with a focus on queer women’s history’ (Link).
PDF des Beitrags zum Download

Kontakt
c/o Museum Herxheim
Untere Hauptstraße 153
76863 Herxheim
E‑Mail: redaktion@femarc.de
Web: www.femarc.de
Bankverbindung
FemArc e.V., Sparkasse Hannover
IBAN: DE36 2505 0180 0910 2955 65
BIC: SPKHDE2HXXX
Spenden in jeder Höhe sind wichtig für unsere Arbeit und willkommen. Gerne stellen wir eine Spendenbescheinigung aus.