Fundstück: TV-Beitrag zu Neanderthalern
Autorin: Sonja Grimm, Datum: 27.01.2021
TV-Dokumentarfilme zur Archäologie sind zahlreich und so vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht etwas zu unseren Vorfahren im Programm findet. Neben Wikingern, Römern und dem alten Ägypten sind oft auch Vormenschen, insbesondere Neanderthaler* Thema. Der Schwerpunkt wie auch die Qualität der Informationen sind dabei sehr unterschiedlich.
Der Sender Arte zeigte am 10. Oktober 2020 die französische Dokumentation „Der Neandertaler – Auf den Spuren unserer Vorfahren“ (À la rencontre de Néandertal, 2019), die unter anderem von dem französischen Nationalinstitut für präventive, archäologische Forschung (INRAP) mitproduziert wurde. Die Beteiligung spiegelte sich in der Aktualität und Qualität der Grabungs- und Forschungsergebnisse durchaus wider, ebenso wie in der Schwerpunktsetzung auf aktuelle französische und britische Ergebnisse. Eine Zuschauerin machte FemArc dennoch auf den Beitrag aufmerksam, da sie sich neben einer fehlenden gendergerechten Sprache und einer sehr maskulin fokussierten Darstellung von Neanderthalern wie auch Archäologen über Aussagen zum Tausch von Frauen empörte.
So herrschte unter den angeführten Expertinnen** ein deutliches Missverhältnis von zwei Frauen zu zehn Männern. Auch dass Beccy Scott vom British Museum mehr Redezeit eingeräumt wurde als anderen, hebt diese männliche Dominanz nicht auf. Zudem wurde in der deutschen Synchronfassung im Singluar immer von „dem Neanderthaler“ gesprochen und bei den plastischen Rekonstruktionen wurden einzig die männlichen Darstellungen, nicht aber Frauen und Kinder gezeigt, die es sehr wohl gibt. Allerdings wurden auch die Bilder des bekannten Rekonstruktionszeichners Gilles Tosello genutzt, die oft ganze Familien zeigen.
Aber wirklich die Sprache hat es mir (wie schon der Zuschauerin) verschlagen, als ein wirklich unnötiges Beispiel zum Frauenhandel angeführt wurde. Der wissenschaftliche Hintergrund der Aussagen ist folgender: In der nordspanischen Fundstelle El Sidron wurden 13, etwa 49.000 Jahre alte Skelette von Neanderthalerinnen und Neanderthalern geborgen. Untersuchungen an der über die Mutterlinie übertragenen DNS (mtDNA) von zwölf dieser Individuen zeigten, dass die männlichen Neanderthaler miteinander verwandt waren und somit aus einer Familie stammten, die Frauen dagegen aus verschiedenen anderen Gruppen. Dies deuteten die Forscherinnen** um Carles Lalueza-Fox als Patrilokalität dieser Gruppen oder wie der Kollege Pascal Depaepe es in der Dokumentation zunächst sehr nüchtern formulierte: Die Frauen wechselten die Gruppen. Aus der Ethnographie und verschiedenen historischen Wildbeuterinnen**-Gruppen kennen wir dazu ebenso Beispiele wie aus unserer neuzeitlichen Geschichte.
Leider wurde dieser sachlichen Beschreibung noch die vom Kollegen Ludovic Slimak formulierte, nicht belegbare Ausmalung der Situation hinzugestellt, dass man sich das Ganze als Frauenhandel vorstellen könne nach dem Motto: „Gibst du mir deine Tochter, gebe ich dir meine Schwester.“ Eine solche Projektion sagt mehr über die Vorstellungen des französischen Kollegen und seiner Haltung zu Frauen aus als über das Verhalten des Homo neanderthalensis. Bedauerlicherweise fanden auch die Regisseure es notwendig, eine solche männliche Besitzfantasie mit unseren Vorfahren in Verbindung zu bringen, statt einfach die wissenschaftliche Aussage Depaepes stehen zu lassen.
Wie Neanderthaler soziale Geschlechter konstruierten und diese wie biologische Geschlechter bewerteten, können wir archäologisch nicht nachweisen. Ein reflektiertes und breit aufgestelltes Bild der aktuellen Forschung zu dieser ausgestorbenen Menschenart, einschließlich der bisher bekannten Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern (S. 65–70), kann man in dem leider bisher nur auf Englisch zu erhaltenen, populärwissenschaftlich geschriebenen Buch „Kindred. Neanderthal life, love, death and art“ von der ausgewiesenen Expertin Rebecca Wragg Sykes erhalten.
* Der Duden sagt, Neanderthaler sei nach der neuen Rechtschreibung des Neandertals ohne h zu schreiben. Da es sich jedoch um einen wissenschaftlichen Namen (Homo neanderthalensis, 1864) handelt, sollte nach Ansicht vieler Forscherinnen** dieser international anerkannten Bezeichnung der Menschenart Vorrang gegeben werden. Anders ausgedrückt: Neandertaler sind moderne Menschen, die im Neandertal bei Mettmann wohnen, wogegen Neanderthaler Vertreter einer ausgestorbenen Menschenart sind, die zeitweise auch im Neandertal lebten.
**Generisches Femininum.
Literaturzitate:
Lalueza-Fox, C., Rosas, A., Estalrrich, A., Gigli, E., Campos, P. F., García-Tabernero, A., García-Vargas, S., Sánchez-Quinto, F., Ramírez, O., Civit, S., Bastir, M., Huguet, R., Santamaría, D., Gilbert, M. T. P., Willerslev, E., de la Rasilla, M. (2011). Genetic evidence for patrilocal mating behavior among Neandertal groups. Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) 108(1), 250–253.
Wragg Sykes, R. (2020). Kindred. Neanderthal life, love, death and art. Bloomsbury Sigma (London).
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