Rezension: Marylène Patou-Mathis, Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann.

 Autorin: Ulri­ke Ram­bu­scheck, Datum: 02.10.2023

Marylè­ne Patou-Mathis, Weib­li­che Unsicht­bar­keit. Wie alles begann. Aus dem Fran­zö­si­schen von Ste­pha­nie Singh. Han­ser Ver­lag, Mün­chen 2021. Ori­gi­nal: L’homme pré­his­to­ri­que est aus­si une femme. Une his­toire de l’invisibilité des femmes. All­ary Edi­ti­on, Paris, 2020. 286 Sei­ten.

Die fran­zö­si­sche Ur- und Früh­ge­schicht­le­rin Marylè­ne Patou-Mathis legt hier ein Buch vor, das laut Klap­pen­text den prä­his­to­ri­schen Frau­en den ihnen gebüh­ren­den Platz in der Geschich­te ein­räu­men will.
In der Ein­lei­tung wird betont, dass die alten Kli­schees der jagen­den Män­ner und in den Höh­len häus­li­che Arbei­ten ver­rich­ten­den Frau­en nicht mehr gel­ten, da sie durch „[n]eue Ana­ly­se­te­chi­ken archäo­lo­gi­scher Relik­te, jüngs­te Ent­de­ckun­gen mensch­li­cher Fos­si­li­en und die Ent­wick­lung der Geschlech­ter­ar­chäo­lo­gie“ ent­kräf­tet wor­den sei­en (S. 9). Ziel des Buches ist es „ (…) Ant­wor­ten auf die Fra­ge nach der Geschich­te der Frau­en in den urge­schicht­li­chen Gesell­schaf­ten zuta­ge zu för­dern“ (S. 13).

Im ers­ten Kapi­tel „Die prä­his­to­ri­sche Frau in der Lite­ra­tur“ geht es erst­mal um Skulp­tu­ren und Gemäl­de aus dem 19. und dem Anfang des 20. Jahr­hun­derts, die Urmen­schen dar­stel­len, wie sie damals gese­hen wur­den: Frau­en und Kin­der erwar­te­ten in der Höh­le die Rück­kehr der Män­ner von der Jagd. Hier ist es sehr bedau­er­lich, dass es kei­ne Abbil­dun­gen gibt. In Roma­nen bis in die 1930er-Jah­re wur­den Frau­en nur kli­schee­haft geschil­dert. In Fil­men der 1960er-Jah­re muss­ten sie haupt­säch­lich für Män­ner sexy sein.
Im Unter­ka­pi­tel „Waren unse­re Vor­fah­ren von Natur aus gewalt­tä­tig?“ geht es um die Vor­stel­lun­gen einer gewalt­vol­len Ver­gan­gen­heit, wie sie in Roma­nen und Kunst­wer­ken des 19. Jahr­hun­derts zum Aus­druck kommt. Aus die­ser Zeit stammt das Ste­reo­typ des tier­fell­tra­gen­den, keu­len­schwin­gen­den Man­nes, der sich gegen eine feind­li­che Natur erweh­ren muss und rie­si­ge Beu­te­tie­re wie Mam­muts jagt. Archäo­lo­gi­sche Fun­de geben aber eher Hin­wei­se auf Gewalt ab dem Neo­li­thi­kum oder der Bron­ze­zeit. Die Autorin zieht dar­aus den Schluss, dass das Geschlech­ter­ver­hält­nis in der Alt­stein­zeit noch aus­ge­gli­chen war und „[d]ie Unter­wer­fung der Frau­en (…) jün­ge­ren Datums (ist) und (…) auf die Errich­tung des patri­ar­cha­len Sys­tems (folgt) …“ (S. 22). Im Unter­ka­pi­tel „Frau­en­raub“ wird dar­über spe­ku­liert, ob die Urmen­schen Frau­en­raub oder doch eher Frau­en­tausch betrie­ben hät­ten.

Im Kapi­tel „Die Ent­ste­hung der Urge­schich­te als wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­plin“ sol­len die Bestand­tei­le unse­res kul­tu­rel­len Erbes unter­sucht wer­den, die die wis­sen­schaft­li­che Beschäf­ti­gung mit der Urge­schich­te beein­flusst haben. Es geht um die Grün­de, wes­halb in der west­lich-abend­län­di­schen Kul­tur die Frau­en als den Män­nern unter­le­ge­ne Wesen auf­ge­fasst wer­den. Dazu wer­den Dis­kur­se aus Reli­gi­on, Phi­lo­so­phie, Medi­zin und – seit dem 18. Jahr­hun­dert – den neu­en Wis­sen­schaf­ten vom Men­schen (Anthro­po­lo­gie, „Schä­del­kun­de“, „Ras­sen­kun­de“) her­an­ge­zo­gen, die alle­samt die Frau­en nega­tiv bewer­te­ten.

Im Kapi­tel „Die prä­his­to­ri­sche Frau im Licht neu­er Erkennt­nis­se der Geschlech­ter­ar­chäo­lo­gie“ geht es in zwei Unter­ka­pi­teln um „Frau­en im Paläo­li­thi­kum“ und um „Frau­en im Neo­li­thi­kum und in der Metall­zeit“. Im ers­ten Unter­ka­pi­tel wird haupt­säch­lich die Kunst des Jung­pa­läo­li­thi­kums mit sei­nen Höh­len­ma­le­rei­en und Sta­tu­et­ten vor­ge­stellt. Hier zeigt sich beson­ders deut­lich, wie wich­tig Abbil­dun­gen gewe­sen wären. Die Frau­en­sta­tu­et­ten wer­den lei­der immer als „Venus­fi­gu­ren“ bezeich­net, obwohl in einer Fuß­no­te dar­auf hin­ge­wie­sen wird, dass die­se Bezeich­nung unan­ge­mes­sen ist. Es wird noch auf die Tätig­kei­ten und die kör­per­li­che Ver­fas­sung von alt­stein­zeit­li­chen Frau­en, auf Patri- oder Matri­lo­ka­li­tät (für die Autorin gab es Patri­lo­ka­li­tät bereits bei den Nean­der­ta­lern, die sie als Zwang gegen­über den Frau­en ansieht) und auf Bestat­tun­gen ein­ge­gan­gen, bevor sich der Fra­ge zuge­wen­det wird, ob es matri­ar­cha­le Gesell­schaf­ten gege­ben habe und wenn ja, ab wann. Für die heu­ti­ge Zeit wer­den Matri­ar­cha­te bestrit­ten (S. 123; auf Sei­te 192 aller­dings wird das Gegen­teil behaup­tet). Für paläo­li­thi­sche Gesell­schaf­ten kon­sta­tiert die Autorin zum Schluss die­ses Unter­ka­pi­tels, dass die­se matri­li­ne­ar orga­ni­siert oder die Geschlech­ter­ver­hält­nis­se gleich­be­rech­tigt gewe­sen sei­en.
Das Unter­ka­pi­tel „Frau­en im Neo­li­thi­kum und in der Metall­zeit“ fragt danach, ob sich der Sta­tus von Frau­en im Neo­li­thi­kum ver­bes­sert oder ver­schlech­tert habe. Nach Abwä­gen eini­ger Mei­nun­gen kommt die Autorin zu kei­nem ein­deu­ti­gen Ergeb­nis. Es wird kon­sta­tiert, dass die Situa­ti­on von Frau­en je nach Gebiet und ihrer gesell­schaft­li­chen Posi­ti­on unter­schied­lich war. Dann wird auf die Ama­zo­nen der grie­chi­schen Sage und ihrer mög­li­chen Ver­bin­dung zu sky­thi­schen Krie­ge­rin­nen­grä­bern ein­ge­gan­gen. Danach wird auf die vie­len Frau­en­dar­stel­lun­gen ein­ge­gan­gen, die oft als Frucht­bar­keits- oder Mut­ter­göt­tin­nen gedeu­tet wer­den. Nach die­sen neo­li­thi­schen Frau­en­dar­stel­lun­gen wer­den weib­li­che Gott­hei­ten in den anti­ken Hoch­kul­tu­ren behan­delt.

Im vier­ten Kapi­tel „Ewi­ge Rebel­lin­nen“ wer­den gro­ße Frau­en­per­sön­lich­kei­ten und Ent­wick­lun­gen, die Frau­en betra­fen oder an denen sie Anteil hat­ten, von der Anti­ke bis ins 20. Jahr­hun­dert vor­ge­stellt.

Das Nach­wort „Frau­en und Femi­nis­mus – ges­tern und heu­te“ ist ein lei­den­schaft­li­cher Appell für die Rech­te der Frau­en in der heu­ti­gen Gesell­schaft wie in der Geschich­te. Beson­ders das Patri­ar­chat müs­se als das erkannt wer­den, was es sei: „eine Denk- und Hand­lungs­form, die eine auf Geschlech­ter­bi­na­ri­tät und Geschlech­ter­hier­ar­chie fußen­de Ord­nung schafft“ (S. 192). Im Fol­gen­den wer­den Unge­rech­tig­kei­ten, unter denen bis heu­te Frau­en lei­den, auf­ge­zählt wie Unter­re­prä­sen­ta­ti­on von Frau­en in Füh­rungs­po­si­tio­nen und in der Wis­sen­schaft, Sexis­mus in den Medi­en, geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Erzie­hung, die Jun­gen gegen­über Mäd­chen bevor­zugt, oder Mas­ku­li­ni­sie­rung der Spra­che. Statt wie jahr­hun­der­te­lang Frau­en wei­ter­hin in kul­tu­rell vor­ge­ge­be­ne Rol­len zu zwin­gen, soll­te das Patriachat über­wun­den und die Kom­ple­men­ta­ri­tät der Geschlech­ter ange­strebt wer­den.

Für mich stellt sich nach der Lek­tü­re die­ses Buches beson­ders die Fra­ge, für wen es geschrie­ben ist? Nach Auf­ma­chung und Klap­pen­text des Buches wohl eher für ein grö­ße­res Publi­kum. Die Autorin ist Ur- und Früh­ge­schicht­le­rin und ein Vier­tel des Buches sind Anmer­kun­gen, eigent­lich gute Vor­aus­set­zun­gen für eine soli­de wis­sen­schaft­li­che Arbeit. Lei­der hat es die Autorin aber nicht geschafft, das Mate­ri­al in ange­mes­se­ner Wei­se zu prä­sen­tie­ren: Nur sel­ten ist ein roter Faden zu erken­nen, zu oft schwankt die Argu­men­ta­ti­on hin und her, ohne zu einem Ergeb­nis zu kom­men. Wie schon bei der Beschrei­bung der ein­zel­nen Kapi­tel deut­lich gewor­den sein soll­te, hal­ten die Über­schrif­ten oft nicht, was sie erwar­ten las­sen. Aus all die­sen Grün­den blei­ben Lai*innen rat­los zurück und für Fachwissenschaftler*innen ist es ein gro­ßes Durch­ein­an­der.
Begrif­fe wie Gen­der, Geschlech­ter­rol­len, die Gen­der­theo­rie, Geschlech­ter­ar­chäo­lo­gie und femi­nis­ti­sche Archäo­lo­gie wer­den ver­wen­det, ohne die­se genau zu erklä­ren; Glei­ches gilt für archäo­lo­gi­sche Fach­be­grif­fe. Hier wäre ein Glos­sar sinn­voll gewe­sen.
Und dann die Fra­ge, was soll­te eigent­lich ver­mit­telt wer­den? Der Inhalt geht weit über die Archäo­lo­gie hin­aus. Es han­delt sich eher um eine Geschich­te der Frau­en von der Alt­stein­zeit bis heu­te.
Neben die­sen inhalt­li­chen Kri­tik­punk­ten gibt es noch eine Rei­he von for­ma­len Unzu­läng­lich­kei­ten. Neben, wie schon erwähnt, feh­len­den Bil­dern und einem Glos­sar ist das Buch teil­wei­se schlecht über­setzt: Im Deut­schen gibt es weder „Urhis­to­ri­ker“ noch „Wild- und Feld­beu­ter“, noch eine „Ursün­de“.
Als ein­zi­ger posi­ti­ver Punkt ist die Nen­nung von fran­zö­si­scher Lite­ra­tur anzu­füh­ren, die in der deut­schen ur- und früh­ge­schicht­li­chen For­schung wenig rezi­piert wird.
Als Fazit bleibt, dass ich das Buch nicht emp­feh­len kann. Hier ist eine Chan­ce ver­tan wor­den, die archäo­lo­gi­sche Geschlech­ter­for­schung einem grö­ße­ren Publi­kum vor­zu­stel­len und Fachwissenschaftler*innen mit den neu­es­ten Erkennt­nis­sen bekannt zu machen.

Wer als fach­frem­de Per­son etwas über die Arbeits­wei­se der Geschlech­ter­ar­chäo­lo­gie wis­sen möch­te, soll­te lie­ber auf das Buch von Mar­ga­ret Ehren­berg „Die Frau in der Vor­ge­schich­te“ von 1992 zurück­grei­fen. Die Vor­ge­hens­wei­se der archäo­lo­gi­schen Geschlech­ter­for­schung wird hier klar struk­tu­riert erklärt und an Bei­spie­len erläu­tert, die nichts an Aktua­li­tät ver­lo­ren haben. Auch die zwei Aus­stel­lungs­ka­ta­lo­ge „Frau­en – Zei­ten – Spu­ren“, Kata­log Aus­stel­lung Mett­mann (1998 her­aus­ge­ge­ben von Bär­bel Auf­fer­mann und Gerd C. Weni­ger) und „Ich Mann. Du Frau. Fes­te Rol­len seit Urzei­ten?“ Begleit­buch zur Aus­stel­lung des Archäo­lo­gi­schen Muse­ums Colom­bischlöss­le (2014 her­aus­ge­ge­ben von Bri­git­te Röder) sind ein guter Ein­stieg ins The­ma. Als kri­ti­sche Stim­me zur soge­nann­ten Matri­ar­chats­for­schung sei auf das Buch „Göt­tin­nen­däm­me­rung. Das Matri­ar­chat aus archäo­lo­gi­scher Sicht“ von Bri­git­te Röder, Julia­ne Hum­mel und Bri­git­ta Kunz aus dem Jahr 1996 hin­ge­wie­sen, das sich eben­falls eher an ein brei­te­res Publi­kum wen­det, ohne fach­li­che Abstri­che zu machen.

 

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