Rezension Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte. Reprodukt Verlag 2025

Rezen­si­on von Michae­la Helm­brecht, im Juni 2025

Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschich­te. Repro­dukt Ver­lag 2025

DiE­in archäo­lo­gisch-femi­nis­ti­scher Sach-Comic! Als Gra­phic-Novel-Fan bin ich neu­gie­rig. Wor­um geht es? Unter ande­rem um die Fra­ge, war­um die meis­ten figür­li­chen Kunst­wer­ke, die aus der älte­ren Stein­zeit erhal­ten geblie­ben sind, Frau­en zei­gen, und den Frust dar­über, dass wir heu­te in vie­len Büchern den­noch immer wie­der haupt­säch­lich Män­ner beim Jagen, Werk­zeug­ma­chen oder sons­ti­gen über­le­bens­not­wen­di­gen Tätig­kei­ten prä­sen­tiert bekom­men. Die Frau­en küm­mern sich um die Babys und ver­las­sen die Höh­le höchs­tens, um ein paar Bee­ren und Pflan­zen zu sam­meln.
Die­ser offen­sicht­lich ver­zerr­ten Wahr­neh­mung geht die öster­rei­chi­sche Comic­zeich­ne­rin Ulli Lust in ihrem groß ange­leg­ten Sach­co­mic auf den Grund. Klei­ne Trig­ger­war­nung vor­weg: Gra­phic (im eng­li­schen Wort­sin­ne, das auch „expli­zit“ und „dras­tisch“ bedeu­ten kann) ist das Buch durch­aus. Wer kei­ne weib­li­chen Geschlechts­tei­le anschau­en will, soll­te sich das Buch viel­leicht nicht zule­gen. Denn dar­um geht es. Aber nicht nur.
Das Buch beginnt mit einer Erkun­dung von Ulli Lusts eige­ner Bio­gra­phie und wie sie selbst zum The­ma kam. Auf­ge­wach­sen im prü­den, länd­li­chen Öster­reich mit star­ren Rol­len­bil­dern von Män­nern und Frau­en, erkun­det sie das The­ma Scham und Nackt­heit, und schon sind wir mit­ten­drin im The­ma, denn die meis­ten Frau­en­fi­gu­ren aus der Eis­zeit sind eben – nackt, und ihre Geschlechts­merk­ma­le sind sehr betont dar­ge­stellt. Aus­la­den­de Brüs­te und Hin­ter­tei­le, über­gro­ße Vul­ven – scham­los! pri­mi­tiv! fan­den die Archäo­lo­gen (das gene­ri­sche Mas­ku­li­num ist Absicht) des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts. Die­se mora­li­sche (Ab-)Wertung ist heu­te immer­hin nicht mehr so oft zu lesen, aber sie hat in unser aller Köp­fen deut­li­che Spu­ren hin­ter­las­sen.
Ulli Lust geht nicht chro­no­lo­gisch vor, son­dern erkun­det ver­schie­de­ne The­men­be­rei­che in ein­zel­nen Kapi­teln – sub­jek­tiv und fan­ta­sie­voll, aber stets aus­ge­hend von und unter­füt­tert mit wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen. Am Ende des Buchs sind Anmer­kun­gen und Lite­ra­tur­an­ga­ben zu fin­den. Die Zeich­nun­gen durch­zieht ein sub­ti­ler Humor, der die Sach­in­for­ma­tio­nen der Tex­te wun­der­bar ergänzt und auf­lo­ckert. So ent­fal­tet sich ein Pan­op­ti­kum des Lebens in der Alt­stein­zeit: Wel­che Rol­le hat die kal­te, unwirt­li­che Umwelt gespielt? Wel­che Tie­re gab es, wie über­leb­ten die Men­schen? Wel­che reli­giö­sen oder spi­ri­tu­el­len Vor­stel­lun­gen könn­ten den Hin­ter­grund für die auf­wen­di­gen Begräb­nis­se gebil­det haben? Immer kommt die Autorin zu dem Schluss: Ohne enge Zusam­men­ar­beit und Wert­schät­zung ging es nicht. Die Men­schen der Eis­zeit kön­nen kei­ne Indi­vi­dua­lis­ten mit mate­ria­lis­ti­schem, män­ner­zen­trier­tem Welt­bild gewe­sen sein. Ihr Über­le­ben hing davon ab, dass alle mit­ein­an­der koope­rier­ten und sich gegen­sei­tig als Män­ner und Frau­en, als Älte­re und Jugend­li­che, als Gesun­de und Ver­letz­te respek­tier­ten und sich gegen­sei­tig hal­fen.
Das Buch schlägt auch den Bogen zu aktu­el­len und drän­gen­den Fra­gen der Moder­ne, etwa der Ent­frem­dung der Men­schen von der Natur, der Umwelt­zer­stö­rung, der Fra­ge, ob und wie sich indi­ge­ne Gesell­schaf­ten „moder­ni­sie­ren“. Dar­in klingt durch­aus hie und da Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik und, ja, auch Stein­zeit­ro­man­tik an.
Das Buch ist mit sei­nen 251 Sei­ten sehr dicht und gehalt­voll. Des­halb ist es etwas scha­de, dass es kein Inhalts­ver­zeich­nis gibt. Das aber ermun­tert dazu, das Buch immer wie­der zur Hand zu neh­men und Neu­es zu ent­de­cken. Nicht umsonst wur­de das Buch jüngst mit dem Deut­schen Sach­buch­preis aus­ge­zeich­net.

 

 

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